Internationales Expertenteam vom IRSN und der Leibniz Universität Hannover veröffentlicht Studie über die radioaktive Wolke vom Herbst 2017
Kein Reaktorunfall, sondern ein Unfall in einer Wiederaufbereitungsanlage: Was im September 2017 europaweit als „leichte Radioaktivität“ in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, war tatsächlich ein beträchtlicher nuklearer Zwischenfall, die gravierendste Freisetzung seit Fukushima. Dafür sprechen mehr als 1.300 Messwerte, die 70 Expertinnen und Experten aus ganz Europa zu einem stichhaltigen Datensatz beigesteuert haben, der von Dr. Olivier Masson vom Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire (IRSN) und Prof. Dr. Georg Steinhauser vom Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Leibniz Universität Hannover gemeinsam ausgewertet wurde. Gemessen wurde radioaktives Ruthenium-106 - die Messwerte weisen auf die wahrscheinlich größte singuläre Freisetzung von Radioaktivität aus einer zivilen Wiederaufbereitungsanlage hin. Die Ergebnisse der Studie hat das gesamte Team unter der Leitung der beiden Wissenschaftler jetzt in der renommierten Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA (PNAS) veröffentlicht.
Im Herbst 2017 wurde in zahlreichen Ländern Europas eine Wolke von Ruthenium-106 gemessen, mit Höchstwerten in der Höhe von 176 Millibecquerel pro Kubikmeter Luft. Die Halbwertszeit des radioaktiven Isotops beträgt 374 Tage. Die Werte waren bis zu 100-mal höher als jene, die nach Fukushima in Europa gemessen wurden.
Die Tatsache, dass neben Ruthenium keine anderen radioaktiven Stoffe freigesetzt wurden, lieferte das entscheidende Indiz, dass die Quelle eine Wiederaufbereitungsanlage gewesen sein musste. Das Ereignis 2017 war also eine durch und durch ungewöhnliche Freisetzung. Und auch die Ausdehnung der Ruthenium-106-Wolke war bemerkenswert – sie wurde in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas, Asiens, der arabischen Halbinsel und sogar bis in die Karibik nachgewiesen. Den Nachweis hat ein informelles, internationales Netzwerk nahezu aller europäischen Messstationen erbracht. Insgesamt waren 176 Messstationen aus 29 Ländern beteiligt; allein in Deutschland gibt es 23 solcher Stationen.
So ungewöhnlich die Freisetzung auch war, die Werte haben (zumindest in Europa) nirgendwo gesundheitsschädigende Levels erreicht. Aus der Analyse der Daten lässt sich eine Gesamtfreisetzung von etwa 250 bis 400 Terabecquerel an Ruthenium-106 ableiten. Für diese beträchtliche Freisetzung im Herbst 2017 hat bis heute kein Staat die Verantwortung übernommen.
Die Auswertung des Konzentrationsverteilungsmusters und atmosphärischer Modellierungen legen einen Freisetzungsort im südlichen Ural nahe. Dort befindet sich die russische Nuklearanlage Majak. Die russische Wiederaufbereitungsanlage war im September 1957 Schauplatz der zweitgrößten nuklearen Freisetzung in der Geschichte – nach Tschernobyl und noch vor Fukushima. Damals war ein Tank mit flüssigen Abfällen aus der Plutoniumproduktion explodiert, was eine massive Kontamination der Gegend verursachte.
Olivier Masson und Georg Steinhauser grenzen den Zeitpunkt der aktuellen Freisetzung auf die Zeit zwischen dem 25. September 2017, 18:00 Uhr, und dem 26. September 2017 mittags ein – also fast auf den Tag genau 60 Jahre nach dem Unfall von 1957. Diesmal sei es eine gepulste Freisetzung gewesen, die nach kurzer Dauer vorüber gewesen sei, erläutert Professor Steinhauser. Im Unterschied dazu dauerten die Freisetzungen von Tschernobyl oder Fukushima über Tage hinweg an. „Wir konnten zeigen, dass der Unfall in der Wiederaufbereitung von abgebrannten Brennelementen passiert ist, und zwar in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Wiederaufbereitung, kurz vor dem Ende der Prozesskette“, ergänzt Georg Steinhauser. „Auch, wenn es derzeit noch keine offizielle Stellungnahme gibt, haben wir eine recht detaillierte Vorstellung davon, was passiert sein könnte.“
Hinweis an die Redaktion:
Für weitere Informationen steht Ihnen Prof. Dr. Georg Steinhauser, Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Leibniz Universität Hannover, unter Telefon +49 511 762 3311 oder per E-Mail unter steinhauser@irs.uni-hannover.de gern zur Verfügung.